Lesen Sie gern Allgemeine Geschäftsbedingungen? Sie brauchen nicht zu antworten. Denn eigentlich kenne ich die Antwort. Aber mal angenommen, Sie wären so ein Nerd wie ich, dann würden Sie demnächst in den neuesten Versicherungsbedingungen für die Autoversicherung lesen, dass die „Technische Aufsicht für Kraftfahrzeuge mit autonomer Fahrfunktion“ eine mitversicherte Person ist.
Technische Aufsicht? Was ist das eigentlich? Ist das der TÜV? Und warum muss die Technische Aufsicht versichert werden?
Überblick: Was ist automatisiertes oder autonomes Fahren?
Bevor ich die Fragen beantworte, ein kurzer Rückblick: Ich hatte an dieser Stelle schon im Frühjahr 2017 unter dem Titel „Auf dem direkten Weg zum Roboterauto?“ über den Stand des automatisierten und autonomen Fahrens berichtet. Der Weg dorthin ist in fünf Entwicklungsstufen gegliedert:
◗◗ Stufe 1 assistiertes Fahren
◗◗ Stufe 2 teilautomatisiertes Fahren
◗◗ Stufe 3 hochautomatisiertes Fahren
◗◗ Stufe 4 vollautomatisiertes Fahren
◗◗ Stufe 5 autonomes Fahren (fahrerloses Fahren)
Die auf Deutschlands Straßen fahrenden Fahrzeuge entsprechen aktuell zum großen Teil den Stufen 1 und 2, bei denen bestimmte Fahrfunktionen bereits vom Fahrzeug übernommen werden (zum Beispiel Abstands-, Spurhalte- und Notbremsassistent). Im Jahr 2017 stellte der Gesetzgeber dann die rechtlichen Weichen für die Zulässigkeit von Fahrzeugen mit Fahrfunktionen der Stufe 3 und 4. Bei diesen Stufen der Automatisierung ist immer noch ein Fahrer der Herr des Geschehens. Er darf die Fahrfunktionen an das System abgeben, muss aber – je nach Automatisierungsgrad – mehr oder weniger in überwachender Funktion tätig sein und bei Bedarf die Fahrzeugführung selbst übernehmen. Fahrzeuge dieser Stufen sind allerdings noch nicht im Verkehr.
Gesetz zum autonomen Fahren
Jetzt, im Jahr 2021, geht der Gesetzgeber den nächsten Schritt und öffnet mit dem „Gesetz zum autonomen Fahren“, das bei Redaktionsschluss dieser „inhalte“-Ausgabe im Entwurf vorgelegen hat, den Weg zum fahrerlosen Fahren auf deutschen Straßen. In Fahrzeugen mit autonomer Fahrfunktion gibt es nur noch Passagiere. Wer aber sorgt bei einem Kfz ohne Fahrer dann dafür, dass das Fahrzeug von A nach B fährt? Wer greift ein, wenn es zu Problemen kommt, zum Beispiel zum Versagen autonomer Fahrfunktionen?
Technische Aufsicht ersetzt den Fahrer
Für solche Fälle sieht der Gesetzgeber eine Technische Aufsicht vor. Technische Aufsicht eines Kraftfahrzeugs mit autonomer Fahrfunktion ist die Person, die für dieses Kraftfahrzeug Fahrmanöver freigeben kann. Sie muss jederzeit bereit und in der Lage sein,
◗◗ nach Aufforderung des Fahrzeugsystems auf das Fahrzeug zugreifen zu können,
◗◗ die vom Fahrzeug vorgeschlagenen Fahrmanöver zu bewerten und freizugeben,
◗◗ die autonome Fahrfunktion deaktivieren zu können.
Die Technische Aufsicht muss besonders qualifiziert sein und über einen Abschluss als Ingenieur, Bachelor, Master oder staatlich geprüfter Techniker der Fachrichtung Maschinenbau, Fahrzeugtechnik, Elektrotechnik oder Luftund Raumfahrttechnik sowie Luftfahrzeugtechnik verfügen. Dass eine weitere Bedingung ein Führerschein ist, versteht sich von selbst.
Versicherungsschutz für autonom fahrende Kraftfahrzeuge
Die Technische Aufsicht tritt quasi an die Stelle des Fahrers. Und genau wie ein Fahrer kann auch die Technische Aufsicht mal etwas falsch machen. Dann muss sichergestellt sein, dass derjenige, der dadurch geschädigt wird, Schadensersatz erhält. Deshalb beabsichtigt der Gesetzgeber vorzuschreiben, dass der Kfz-Halter eine Haftpflichtversicherung für die Technische Aufsicht abschließen muss (Pflichtversicherung). Die deutschen Versicherer werden dann die Technische Aufsicht in ihre Kfz-Versicherungsbedingungen einfügen. Manche großen Autoversicherer wie die LVM haben das vorsorglich bereits getan.
Ganz wichtig in diesem Zusammenhang: Der deutsche Gesetzgeber hat sich auch bei Unfällen mit autonom fahrenden Kfz für ein bewährtes System entschieden. Die Kfz-Haftpflichtversicherer autonom fahrender Kfz sollen die Ansprüche des Geschädigten regulieren, nicht die Autohersteller. Der Kampf „David gegen Goliath“ (Geschädigter gegen Autohersteller) bleibt so aus. Im Falle eines Systemfehlers wird der Versicherer Regress beim Autohersteller nehmen. Eine richtige Verteilung der Verantwortlichkeiten, denn der Versicherer kann sich im Gegensatz zum Geschädigten „auf Augenhöhe“ mit dem Kfz-Hersteller auseinandersetzen.
Ausblick
Wer jetzt glaubt, er könne sich demnächst von seinem autonom fahrenden Kfz in den Urlaub bringen lassen, den muss ich sofort auf den Boden der Realität zurückholen. Zum einen ist die autonome Fahrfunktion noch nicht auf dem Stand der Technik. Zum anderen zielt das Gesetz zum autonomen Fahren eher auf den gewerblichen Güterverkehr und den Personennahverkehr, nicht hingegen auf den Individualverkehr. Denn die detaillierte örtliche Streckenführung, auf der autonom fahrende Kfz fahren dürfen, muss im Detail beantragt und in einem strengen Zulassungsverfahren genehmigt werden.
Der Weg zum privaten autonomen (fahrerlosen) Fahren ist also noch weit, der Anfang ist aber gemacht.
■ Rainer Rathmer