Ja, wer sich so durch die täglichen Nachrichten liest und hört, könnte diesen Eindruck bekommen – doch es gibt auch erfrischend andere Sichtweisen, wie der folgende Lesetipp zeigt:
Mit seiner beliebten Kolumne „Früher war alles schlechter“ beweist Guido Mingels den SPIEGEL-Lesern jede Woche aufs Neue, dass es der Welt trotz Kriegen, Krankheiten und Katastrophen immer besser geht. Anhand einprägsamer Grafiken zeigt er zum Beispiel, dass die Verbreitung von Krankheiten wie Malaria stark zurückgeht; dass Fahrraddiebstähle oder Teenagerschwangerschaften immer seltener werden; oder dass rund um den Globus immer mehr Menschen Zugang zu Toiletten haben. Sein zweiter Kolumnenband versammelt nicht nur eine Fülle neuer überraschender Weltverbesserungsfakten, sondern bekräftigt auch die frohe Botschaft, dass es keinen Grund gibt, überall Zeichen für den Weltuntergang zu sehen:
Hier ein kleiner Auszug:
Zufriedenheit – Bitte ankreuzen:
Sind Sie insgesamt gesehen, mit dem Leben, das Sie führen,
□ sehr zufrieden
□ ziemlich zufrieden
□ nicht sehr zufrieden
□ überhaupt nicht zufrieden
Dies ist eine der Fragen, die das sogenannte Eurobarometer seit 1973 den Bürgern von EU-Ländern stellt. In Deutschland werden dafür zweimal jährlich jeweils 1500 Personen in Face-to-Face-Gesprächen und zu Hause interviewt. Betrachtet man die Ergebnisse im langen Rückblick, so zeigen sich drei nachvollziehbare deutsche Stimmungstiefs: I981 und 2003, als die Wirtschaft schwächelte und die Arbeitslosigkeit stieg, sowie in den ruppigen ]ahren nach der Wiedervereinigung, bis 1997.
Warum aber sind die Deutschen in den vergangenen drei Jahren offenbar so glücklich wie noch nie seit 1973? 2014, 2015, 2016: Das ist die Blütezeit der Pegida-Märsche, der „Flüchtlingskrise“ und der Suche nach einer „Alternative für Deutschland“, das sind die Boomjahre der neurechten Populisten und der von Angst begleiteten Rückkehr terroristischer Anschläge in Westeuropa – und ausgerechnet in diesen drei Jahren sagen mehr als 90 Prozent der Deutschen, dass sie entweder sehr oder ziemlich zufrieden sind mit ihrem Leben? Das kann nur heißen: Es gibt auch ein Leben abseits der Schlagzeilen, und das ist gar nicht so schlecht. Die derzeit Zufriedensten sind übrigens die Dänen (97 Prozent), die Unzufriedensten die Griechen (38 Prozent).
Mord und Totschlag – Je weniger Morde, desto mehr Krimis
In einer berühmt gewordenen Studie hat der Gewalthistoriker Manuel Eisner die Mordraten verschiedener europäischer Länder seit dem I4. ]ahrhundert rekonstruiert. Seine Erkenntnisse zeigen, dass die Mordbelastung in Europa über die Jahrhunderte radikal gesunken ist.
In den untersuchten Ländern, darunter auch Deutschland, lag die Rate in früheren Jahrhunderten in einem Korridor von rund 10 bis 100 Fällen pro 100 000 Einwohner, damit bis zu 100-mal höher als heute. Deutschland verzeichnete 2016 862 Opfer von Mord und Totschlag, das entspricht einer Tötung pro 100 000 Menschen oder etwa zwei Opfern pro Tag. Anders ausgedrückt: Angenommen, Deutschland würde noch heute eine Mordrate aufweisen, wie Eisner sie für das Mittelalter errechnet hat, so kämen hierzulande pro Jahr bis zu 80 000 Menschen gewaltsam zu Tode, mehr als 200 pro Tag. Mord war gestern.
Denkt man nun aber daran, wie allgegenwärtig, wie unausweichlich, wie unsagbar überrepräsentiert Morde im Fernsehen, im Kino, in der Presse, in der Literatur und im Gesellschaftsgespräch sind – dann drängt sich der Verdacht auf, dass ein umgekehrt proportionales Verhältnis vorliegt: je weniger echte Morde, desto mehr fiktive. Jamaika etwa, das mit 43 Törungsdelikten pro 100 000 Einwohner (2015) eine der höchsten Mordraten der Welt aufweist, ist nicht für eine florierende Krimiproduktion bekannt.
Skandinavische Länder hingegen, wo die Mordraten gegen Null tendieren, sind berühmt für ihre besonders blutrünstigen Crime-Autoren.
Natürlich haben wir auch heute keine „heile Welt“, doch gibt es ebenso wenig das gern zitierte „Früher war alles besser“. Sehr interessant & lesenswert!
*Quelle: DVA/Random House, 144 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abb., ISBN: 978-3-421-04834-9
■ Karsten van Husen