„Arbeit ist Arbeit und Schnaps ist Schnaps“. Die bekannte Redewendung hält uns dazu an, berufliches und privates nach Möglichkeit voneinander zu trennen und hat sich in der Vergangenheit im Wesentlichen bewährt. Unsere Organisationen sind darauf ausgerichtet betriebliches zu fördern und zu entwickeln und privates in einem gewissen Rahmen zwar zu tolerieren, aber im Wesentlichen doch zu unterbinden. Schließlich wird man ja „nicht für sein Privatvergnügen bezahlt“ und eine saubere Trennung hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Seit einiger Zeit diskutieren wir im Unternehmen, wo beim Thema Lernen die Grenze zwischen betrieblichen Bedarfen und privaten Wünschen verläuft. Immer häufiger gibt es Anfragen für Weiterbildungen und Seminare, die sich nicht mehr so eindeutig zuordnen lassen, weil sich ihr Nutzen sowohl betrieblich als auch nicht betrieblich gut argumentieren lässt. So wird auch im Bereich der Weiterbildung die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit immer fließender. Viele Mitarbeitende nutzen betriebliche Möglichkeiten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, auch um persönliche Interessen zu pflegen und zu entwickeln. Was auf den ersten Blick nach einem einseitigen Ausnutzen klingt, kann auf den zweiten Blick jedoch auch sehr im Sinne des Unternehmens sein, wie folgende Anekdote verdeutlicht:
Vor ziemlich genau 50 Jahren saß Dr. Spencer, ein junger Chemiker, in einem Labor in Minnesota. Er war frustriert über die Ergebnisse seiner letzten Testreihe. Denn das, was eigentlich ein neuer Superkleber werden sollte, ließ sich zwar problemlos auf verschiedene Materialien auftragen, dann aber auch wieder problemlos lösen. Ein Fehlschlag für Spencer. Einige Jahre später unterhielt er sich zufällig mit seinem Arbeitskollegen Art Fry beim Mittagessen über dessen Engagement für den Kirchenchor. Fry ärgerte sich über seine mühsam einsortierten und ständig herausfallenden Lesezeichen in den Gesangsbüchern. Und auf einmal erinnerte sich Spencer an seinen vergangenen Versuch, einen Superkleber zu entwickeln, der sich aber problemlos lösen ließ, und entwickelte zusammen mit Fry ein neues Produkt für sein Unternehmen. Dies war die Geburt des Post-its und der Beginn eines überwältigenden Unternehmenserfolgs für seinen Hersteller 3M.
Wir leben heute mehr denn je in einer Zeit, in der die neue große Idee, der entscheidende Impuls, der ein Unternehmen weiterbringt und vielleicht sogar ganze Branchen revolutioniert, aus jeder Ecke und von jedem Mitarbeitenden kommen kann. Nicht nur aus der Vorstandsetage oder einem strategischen ThinkTank, sondern vom Praktikanten oder einer Kollegin aus einem völlig anderen Bereich und oftmals völlig überraschend. Häufig entstehen solche Ideen durch Zufälle, die im Nachhinein anschauliche Entstehungslegenden abgeben, wie im Beispiel des Post-its. Für Unternehmen, die sich immer häufiger unüberschaubaren, komplexen und asymmetrischen Wettbewerbsverhältnissen ausgesetzt sehen, sind solche quer gedachten Ideen von immer entscheidenderer Bedeutung. Klassische Erfolgsgaranten wie fachliche Expertise oder große Assets rücken zugunsten von einzelnen Ideen und Kreativität in den Hintergrund. Es sind die neuen Ideen und die Menschen die diese mit Leidenschaft verfolgen, die Unternehmen voranbringen und so das Überleben der Firmen in der heutigen Zeit sichern.
Was können wir als Unternehmer tun, um diese Entwicklungen nicht nur dem Zufall zu überlassen? Damit neue Ideen entstehen können, brauchen wir Raum für interdisziplinären Austausch und vernetztes Denken. Jeder soll vom anderen möglichst viel mitbekommen, um so seinen eigenen Horizont erweitern zu können und neue Dinge zu erfahren. Jeder hat andere Interessen und Fähigkeiten und oftmals eine große Bereitschaft diese auch mit anderen zu teilen. Damit dies geschehen kann braucht es einen Ort, an dem viele verschiedene Menschen zusammenkommen, die ihr Wissen geben und auch Wissen erweitern möchten. Um derartigen Austausch zu begünstigen, müssen Unternehmen Raum schaffen. Einen Raum, in dem sich Menschen mit ihren Sichtweisen und Ideen offen begegnen können. Einen Ort, um Neues zu lernen, um Leidenschaften zu teilen und mit neuen Kolleginnen und Kollegen in den Austausch zu kommen. Um zufälligen und unvorhersehbaren Befruchtungen von Ideen und Gedanken auf die Sprünge zu helfen.
Eine Möglichkeit, so einen Raum zu schaffen, ist die Einrichtung offener Austauschrunden, z. B. durch Impulsvorträge beim gemeinsamen Mittagessen oder gleich der Einrichtung einer offenen Kollegenakademie. So können Mitarbeitende zu Themen, die sie begeistern, Vorträge oder ganze Seminare für ihre Kolleginnen und Kollegen anbieten. Zieht man bezüglich der Inhalte bewusst keine thematische Grenze zwischen betrieblichen und nicht betrieblichen Themen, entsteht ein ganzheitlicher Blick auf die Menschen im Unternehmen. Aufgrund des großen Nutzens und der Möglichkeit zur freien Gestaltung erwarten Mitarbeitende hier keineswegs, dass dies während der Arbeitszeit passieren soll. Sie sind offen und dankbar, dass im Unternehmen Strukturen und Räume zur Verfügung gestellt werden, die einen Austausch und Lernen von privaten Themen ermöglichen. Lebenslanges Lernen nicht nur in der schulischen Form, sondern als Angebot und Chance von Menschen für Menschen.
Auf diese Weise können Unternehmen doppelt profitieren, da der Nutzen für das Unternehmen deutlich über eine stärkere Vernetzung im Sinne der Innovationskraft hinausgeht. Es wird ein Menschenbild gefördert, was Mitarbeitende ganzheitlich sieht, Vielfältigkeit schätzt und jedem Mitarbeitenden die Möglichkeit gibt, seine Persönlichkeit nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln und neue Impulse und Inspirationen für sich zu bekommen. Von der Betrachtung als Mitarbeiter im Unternehmen mit vorrangig betrieblich relevanten Aspekten verändern wir uns zu einer Betrachtung als Mensch im Unternehmen mit allen dazugehörigen Bedürfnissen und Aspekten. Das macht etwas mit den Menschen und ihrer Einstellung zum Unternehmen. Den Kollegen oder die Kollegin mal in einer anderen Rolle zu sehen, andere Kollegen oder Kolleginnen überhaupt in so einem Rahmen kennenzulernen, bietet eine neue Erfahrung und neue Ansatzpunkte in jeder Hinsicht und doch ist es am Ende nicht mehr als ein Raum der Möglichkeiten, in dem persönliche Entwicklung entstehen kann. Ein Angebot zur Weiterentwicklung und vielleicht auch die Saat für die Entstehung innovativer Ideen à la Post-it.
■ Paul Grave