Spätestens seit dem letzten Wahlkampf ist der Begriff „Pflegenotstand“ aus der Medienlandschaft nicht mehr wegzudenken – und das ist auch gut so, denn die Zahlen und Fakten sind alarmierend.
Zum einen steigt die Zahl pflegebedürftiger Menschen in Deutschland seit Jahren kontinuierlich an. Zur Jahrtausendwende lag dieser Wert noch bei 2,0 Millionen. 2015 mussten bereits 2,9 Millionen Pflegebedürftige versorgt werden – ein Anstieg um 40 Prozent. Glaubt man den Daten des statistischen Bundesamtes, wird dieser Anstieg bis 2030 sogar bei 75 Prozent liegen. 3,6 Millionen Menschen werden dann auf die Hilfe von Pflegekräften angewiesen sein. Das wären sieben Prozent der Bevölkerung, ein doppelt so hoher Anteil wie heute.
Dieser Anstieg dürfte eigentlich niemanden überraschen. Die Menschen erreichen ein immer höheres Lebensalter und die demografische Entwicklung führt zu einem deutlichen Anstieg des Durchschnittsalters in unserer Gesellschaft – eine Entwicklung, die mittlerweile jedes Schulkind kennt: Die Alterspyramide dreht sich auf den Kopf.
Gefahr erkannt – Gefahr gebannt? Wenn sich eine Entwicklung so langfristig ankündigt, könnte man glauben, ein hoch entwickeltes Land wie Deutschland sei in der Lage, die notwendigen Schritte frühzeitig einzuleiten. Aber weit gefehlt. In der Alten- und Krankenpflege sind bundesweit mindestens 36.000 Stellen nicht besetzt. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion hervor. Demnach fehlen derzeit mindestens 26.000 Pfleger sowie etwa 10.000 Hilfskräfte. In ein paar Jahren wird sich diese Situation noch dramatischer darstellen. 300.000 Pflegekräfte werden laut Prognosen des Deutschen Pflegerats bis 2030 fehlen, davon allein 200.000 in der Altenpflege.
Union und SPD versprechen im Koalitionsvertrag ein Sofortprogramm mit 8.000 zusätzlichen Stellen in der Pflege. „Nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“, warnen jedoch Experten und Oppositionspolitiker. Aber auch wenn es einen Beschluss über 50.000 Stellen gegeben hätte, wie die Grünen fordern, wüsste niemand, woher die Tausende neuen Kranken- und Altenpfleger kommen sollten, denn der Arbeitsmarkt ist leergefegt. In der Altenpflege kommen auf 100 offene Stellen bundesweit lediglich 21 Arbeitssuchende.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Schichtarbeit, Überstunden und geringe Bezahlung sind keine Argumente für eine Ausbildung in der Pflege. Diesen Weg einzuschlagen erfordert eine große Portion an Idealismus und den tiefen Wunsch, Menschen zu helfen. Wenn aber gerade dafür im Arbeitsalltag keine Zeit bleibt, gesellt sich zu der enormen körperlichen auch eine große psychische und emotionale Belastung. Hohe Krankenstände in Pflegeeinrichtungen und die Flucht aus dem Beruf sind die Folge. Die Belastung der verbleibenden Mitarbeiter steigt – ein Teufelskreis.
Diese immer weiter klaffende „Pflegelücke“ wird sich daher nur schließen lassen, wenn der Beruf in der Pflege durch höhere Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen wieder an Attraktivität gewinnt. Verbindliche Vorgaben für Betreuungsschlüssel in Pflegeeinrichtungen wären beispielsweise ein Anfang. Deutschland gehört hier zu den Schlusslichtern. Einer internationalen Pflege Vergleichsstudie aus dem Jahr 2012 zufolge kommen in den USA durchschnittlich 5,3 Patienten auf eine Pflegefachkraft, in den Niederlanden sieben, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9. In Deutschland müssen sich Pfleger im Krankenhaus dagegen im Schnitt um 13 Patienten kümmern. Daran wird sich ohne verbindliche Vorgaben nichts ändern, denn für profitorientierte Pflegeeinrichtungen ist die Ausrichtung „Kostenführerschaft“ die sinnvollste Strategie und das Einsparen von Personalkosten ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Dass diese Strategie nicht nur zulasten der Pflegenden, sondern auch der Patienten und Pflegebedürftigen geht, zeigt die Studie einer Forschergruppe um den Gesundheitssystemforscher Prof. Dr. Max Geraedts von der Universität Witten/Herdecke.
Hier wurden zwar explizit nur Pflegeheime miteinander verglichen, aber dass sich die Erkenntnisse grundsätzlich auf den gesamten Pflegesektor übertragen lassen, liegt nahe. Der Studie zufolge bieten profitorientierte Pflegeheime in Deutschland im Vergleich zu nicht-profitorientierten Pflegeheimen insgesamt eine geringere Qualität. Gerade im unteren Preissegment pflegen die profitorientierten Pflegeheime schlechter als die nicht-profitorientierten. Im obersten Preissegment unterscheiden sich die Einrichtungen dagegen kaum noch nach ihrer Profitorientierung. Kurz zusammengefasst heißt das: Gute Pflege ist teuer.
Dass jeder einzelne diese Erkenntnis bei seiner privaten Vorsorge berücksichtigen sollte, um sich im Fall der Fälle eine teurere Pflegeeinrichtung leisten zu können, ist die eine Sache. Aber auch wir als Gesellschaft müssen als Solidargemeinschaft für die Pflege unserer Alten und Kranken einstehen – zumindest finanziell. Das Schließen der Pflegelücke wird viel Geld kosten. Dass Jens Spahn, der seit März Bundesminister für Gesundheit ist, jetzt Beitragssteigerungen für die Pflegeversicherung ankündigt, ist also nur folgerichtig.
■ Ruth Snethkamp