Hochkonzentriert blickt Charlotte H., Teamleiterin einer Spedition, auf ihren Bildschirm. Auf den ersten Blick scheint es so, als brüte sie über einer komplizierten Excel-Tabelle, feile an einem schwierigen Angebot oder arbeite an einer komplizierten Präsentation. Doch plötzlich freut sie sich: “Hurra, ich habe mein Team von der einsamen Insel befreit!“
Wie bitte? Befreiung von einsamen Inseln kommt definitiv nicht in ihrer Stellenbeschreibung vor und ist auch eher unüblich für eine Teamleiterin in einer Spedition. Was hier auf den ersten Blick ziemlich skurril wirkt, ist in vielen Betrieben schon längst Realität. Das spielerische Lernen – die Gamification oder wie Wikipedia sagt „die Spielifikation oder das Spielifizieren“.
Aber was genau ist Gamification? Hier werden Spielmechanismen genutzt, um Anwender durch bestimmte Kontexte zu führen, die eigentlich erst einmal nichts mit einem klassischen Spielekontext zu tun haben. Dies können z. B. Lerninhalte aus der Schule, Produktschulungen oder Verhaltensthemen sein.
Schaut man in die Vergangenheit wird deutlich, dass Lernen mit spielerischen Anreizen schon lange etabliert ist. Jeder erinnert sich an Börsenplanspiele in der Schule oder die Rollenspiele in Seminaren. Der Spieltrieb ist uns von der Natur mitgegeben.
Im Vorwort eines 1980 erschienenen Buches über Rollenspiele kann man u. a. folgendes lesen:
„Rollenspielen ist modern geworden. Die Einsatzmöglichkeiten umfassen immer mehr Bereiche. Als pädagogisches Medium hat das Rollenspiel umfangreiche und bedeutende Funktionen gewonnen. Es ermöglicht spielerisches Erleben, schult Wahrnehmung und Ausdruck, unterstützt soziale Fähig- und Fertigkeiten, fördert Selbstbestimmung und Kooperation, hilft Interessen zu erkennen, ermöglicht die Realisierung eigener Bedürfnisse, fördert die Ausgestaltung bestehender Lebensbedingungen.“ (Quelle: Rollenspiele mit Erwachsenen; Maternus Verlag)
Wenn der Autor 1980 gewusst hätte, wie digitale Rollenspiele im Jahr 2017 ausssehen, hätte er sich sicherlich verwundert die Augen gerieben. Und doch sind die dort erwähnten Aspekte aktueller denn je. Durch die digitale Variante des Spiels kommen jedoch weitere Aspekte hinzu.
So können problemlos individuelle Lerntempi berücksichtigt werden. Die Lernspiele im unternehmerischen Kontext sind z. B. in der Regel in kleine Lerneinheiten unterteilt, die die Mitarbeitenden sich so einteilen können, dass sie in ihren beruflichen Alltag passen.
Dies entspricht unserem Zeitgeist, wie eine große Studie der Vodafone Stiftung mit über 10.000 Menschen zeigt („Gebrauchsanweisung für lebenslanges Lernen“). Die Teilnehmenden bestätigten, dass Lerner heute tatsächlich großen Wert auf selbstständiges Lernen legen. Mitarbeitende wollen selbst bestimmen, wann, wo und wie sie lernen. 2 von 3 Befragten geben an, dass sie Verantwortung für ihr Lernen gerne selbst übernehmen möchten.
Eben dieser Zeitgeist schafft uns auch ein Lebensumfeld, in dem es mittlerweile völlig normal ist, sich in digitalen Kontexten zu bewegen, die sehr häufig mit kurzen spielerischen Elementen angereichert sind. Sei es das Adventskalenderspiel im Onlineshop oder das gute alte Börsenplanspiel, welches nun digital verfügbar ist.
Da ist es nur naheliegend, auch das Lernen im betrieblichen Umfeld mit diesen spielerischen und selbstgesteuerten Elementen anzubieten.
Ein weiterer Vorteil von Gamification in Lernprogrammen ist die Schaffung von Motivation. Mit kleinen Belohnungen, wie z. B. Erhalten von Abzeichen, Freischalten des nächsten Levels oder Highscores wird das Belohnungssystem des Gehirns angesprochen und so zum Weiterlernen motiviert. So haben die Gamelearn-Plattformen eine Abschlussrate von 92 Prozent (Quelle: game-learn.com) gegenüber klassischen E-Learning-Kursen mit einer Abschlussrate von 30 Prozent (Quelle:Simpson, O. (2013) E-Learning and the Future of Distance Education. Wiley Online Library)
Wie immer gibt es auch hier eine deutliche Kehrseite. Vor allem ausufernde Onlinespiele, die sich stark derartiger Motiviationsmechanismen bedienen, können dazu führen, dass sich die Spieler in ihrer Freizeit verlieren und sogar in eine Sucht rutschen.
Im betrieblichen Kontext jedoch dürfte das ausufernde Nutzen von Lernprogrammen mit Gamification alleine aus zeitlichen Gründen eher weniger problematisch sein.
Doch wie sehen diese sog. „Serious Games“ eigentlich aus? Auch hier gibt es mittlerweile eine große Bandbreite und eine Vielzahl von Anbietern.
Gehen wir doch einfach einmal zurück zu Charlotte H. in der Spedition. Das Team, welches sie von einer einsamen Insel gerettet hat, steht symbolisch für ihr eigenes Team. Die Aufgabe in dem Lernspiel war, ein gestrandetes Team zu retten. Dies konnte jedoch nur gelingen, indem Frau H. durch „Gespräche“ mit ihren virtuellen Teamkollegen deren Fähigkeiten, Motivationen, Ängste und Bedürfnisse genau einschätzen konnte. Gleichzeitig bekam sie positives und negatives Feedback, mit dem sie umgehen musste.
Ganz nebenbei werden also Gesprächstechniken vermittelt, aktives Zuhören geschult, Feedbackgeben und -nehmen erlernt. Allesamt Fähigkeiten, die für eine Führungskraft von zentraler Bedeutung sind.
Ebenso können viele weitere Themen, wie Produktschulungen, Verhandlungstrainings, Zeitmanagement, Kundenbeziehungsmanagement, unternehmerisches Denken etc. auf diese Weise spielerisch vermittelt werden.
Die Kosten pro Lerneinheit sind überschaubar, sodass der Kosten/Nutzen-Faktor sehr hoch ist und der Aufwand der Implementierung eher gering. Die Lernspiele sind für nahezu alle Systeme verfügbar. Bei Unternehmen mit einer Mitarbeitergröße von über 25.000 MA nutzen bereits 58,87 Prozent das Game-based Learning, während es bei Unternehmen unterhalb dieser Größe lediglich zwischen 20 und 28 Prozent sind (Quelle: eLearning Benchmarking Studie 2016). Dies ohne signifikante Unterschiede zwischen kleinen und mittleren Unternehmen. Da ist also durchaus noch Ausbaupotenzial – und wir werden uns wohl an den Anblick „spielender“ Kolleginnen und Kollegen gewöhnen und so manchen „Retter aus der Not“ noch beglückwünschen dürfen.
■ Silvia Wiefel