Das britische Referendum verändert Europa. Erstmalig hat ein Volk eines europäischen Mitgliedstaates beschlossen, die Europäische Union wieder zu verlassen. Das ist das Ergebnis des Brexit-Referendums vom 23. Juni 2016. Welche Auswirkungen hat das für die Wirtschaft und die Europäische Union?
Den Tagen nach dem Referendum folgte nicht nur ein politisches Erdbeben in Großbritannien und der gesamten EU, sondern auch ein Beben auf den internationalen Finanzmärkten: Über Nacht wurden mehr als zwei Billionen Dollar an Börsenwert vernichtet und das britische Pfund sank auf den niedrigsten Stand seit 31 Jahren.
Mit dem Ergebnis, dem Ja zum Brexit, hat darüber hinaus das Selbstverständnis der EU einen wesentlichen Schaden genommen. Ein EU-Gründungsmitglied, die ehemalige Großmacht Großbritannien, will austreten. Deutschland wird damit nicht nur einen wichtigen EU-Partner in der außen- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit verlieren, sondern vor allem auch einen Verbündeten in der zukünftigen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik.
Absatzmarkt Großbritannien
Für Großbritanniens Wirtschaft wird der Brexit langfristige Folgen haben: 47 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU. Aber auch in Deutschland werden sich Auswirkungen zeigen. Die Experten des ifo-Instituts prognostizieren langfristig einen Rückgang des deutschen BIPs von bis zu 3 Prozent. Das liegt vor allem an den engen Wirtschaftsbeziehungen.
Großbritannien ist der drittwichtigste Handelspartner Deutschlands. Für die deutsche Automobilindustrie sogar der größte Exportmarkt: Jedes fünfte Auto geht über den Ärmelkanal. Insgesamt exportieren deutsche Unternehmen jedes Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von 120 Mrd. Euro, gemeinsam mit der Chemie und Pharmabranche und dem Maschinenbau machen sie 63 Prozent der Exporte aus. An diesem Handel hängen 750.000 Arbeitsplätze in Deutschland und mehr als 400.000 Arbeitsplätze in den über 2.500 Niederlassungen deutscher Unternehmen in Großbritannien.
Für mehrere Jahre wird Unklarheit darüber bestehen, zu welchen Konditionen Geschäfte mit den Briten gemacht werden können. Denn erst nach dem Ausstritt, der mindestens zwei Jahre Zeit in Anspruch nehmen wird, wird sich die zukünftige Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und der EU klären. Und das wird laut Experten weitere zwei bis 10 Jahre in Anspruch nehmen. Welche Vereinbarungen für diesen Übergangszeitraum gelten werden, ist noch nicht abzusehen. Bereits jetzt ist die Unsicherheit über die wirtschaftlichen Perspektiven für Großbritannien gestiegen. Das zeigt sich etwa an den höheren Preisen von Kreditausfallversicherungen für britische Staatsanleihen oder den starken Schwankungen an den Aktien- und Devisenmärkten. Außerdem halten sich britische Unternehmen mit Investitionen, aber auch mit der Schaffung von Arbeitsplätzen zurück.
Alles Weitere wird davon abhängig sein, was die neue britische Regierung mit der EU verhandeln wird. Je nach Modell, einem Assoziierungs- oder einem Handelsabkommen, dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum „Modell Norwegen“ oder der Aushandlung sektoraler Abkommen „Modell Schweiz“ wird im Zentrum die Reduzierung der jeweiligen ökonomischen Konsequenzen hinsichtlich der Waren-, Dienstleistungs- Kapital- und Personenverkehrsfreiheit stehen.
Außerdem ist Großbritannien, nach den USA, der zweitwichtigste Handelspartner der EU, dessen Anteil bei Exporten 7 Prozent ausmacht. Deshalb wird im weiteren Verfahren nicht nur Deutschland ein wesentliches Interesse daran haben, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und Großbritannien im Binnenmarkt zu halten, sondern auch die EU.
Folgen für die Europäische Union
Mit dem Vollzug des Brexits werden die restlichen 27 europäischen Mitgliedsstaaten den Verlust des zweitgrößten Nettobeitragszahlers kompensieren müssen – bei gleichbleibenden Ausgaben würde das für Deutschland Mehrausgaben von 2,5 bis 3 Mrd. Euro bedeuten – oder aber den EU-Haushalt kürzen. Dies würde letztlich Einschnitte auch für die Nettoempfänger und zugleich schwierige Verhandlungen bedeuten, in denen Forderungen auf Deutschland zukommen werden. Bei der Gestaltung der europäischen Haushaltspolitik wird Deutschland mit Großbritannien daher ein wichtiger Partner fehlen.
Zu den Folgen des Austritts gehört auch der Wegfall von EU-Subventionen. Hierzu ein Beispiel: Agrarexperten der britischen Regierung haben ausgerechtet, dass bestenfalls 10 Prozent der britischen Landwirte überlebensfähig wären. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von 100.000 Pfund stammt zu 60 Prozent aus EU-Subventionen.
Bei den Verhandlungen über einen geordneten Ausstieg müssen wesentliche Entscheidungen, wie zum Beispiel die Ausgestaltung des Strukturfonds bis 2020, Pensionsverpflichtungen für EU-Beamte und Vertragsverletzungen neu geregelt werden. Auch müssen Entscheidungen über die Zukunft von Standorten von EU-Institutionen, wie der Europäischen Medizin-Agentur und der Europäische Bankenaufsicht (EBA) geklärt werden. Bislang ist nicht vorstellbar, dass EU-Behörden eines Tages ihren Sitz außerhalb der EU haben könnten.
Keine weitere Spaltung
Die EU und Großbritannien bleiben Partner, aber die künftigen Beziehungen müssen neu geordnet werden. Das wird in einem zweiten, vom Ausstiegsabkommen getrennten Abkommen, geregelt werden. Schwerpunkte werden sicherlich Fragen des gegenseitigen Marktzugangs und der Arbeitnehmerfreizügigkeit betreffen. Großbritannien wird in den Verhandlungen Bedingungen und Wünsche nennen und die EU darüber beraten.
Es ist nicht abzusehen, wie sich andere Mitgliedstaaten mit EU-kritischer Bevölkerung verhalten werden, wenn die britische Regierung den notwenigen Schritt, den Antrag auf den EU-Austritt, eingereicht hat und die Verhandlungen starten. Damit es zu keiner weiteren Spaltung Europas kommt, wird deshalb von großer Bedeutung sein, dass die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten in den Verhandlungen Strenge zeigen, damit jedem Mitgliedstaat deutlich wird, dass ein EU-Austritt schwerwiegende Folgen hat.
Der Brexit ist ein Weckruf und gleichzeitig eine Chance für die EU wieder näher zusammenzurücken, um die Europäische Idee und die gemeinsamen Errungenschaften wieder in das Zentrum der europäischen Politik zu stellen.
von Franz-Josef Holzenkamp (MdB)