4/2015 Die europäische Idee in der Krise

Entscheidet sich die Zukunft Europas an der Flüchtlingskrise? Krisen hat die Europäische Union schon einige erlebt. Auch die Intensität der Auseinandersetzung ist nicht neu, aber dass die Solidarität von einzelnen Mitgliedstaaten aufgekündigt worden zu sein scheint, das ist eine neue Dimension. Statt eines gemeinsamen Vorgehens handeln einige Mitgliedstaaten allein: Von der Kapitulation bis zu Abschottung ihrer Grenzen. Die innere Zerrissenheit wird deutlich. Und genau diese muss überwunden werden, damit die europäische Idee nicht platzt.
Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen, die nicht an nationalen Grenzen halt machen. Die Europäische Union ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Staaten und verteidigt neben der Wertegemeinschaft konsequent und erfolgreich die Idee vom Binnenmarkt, dem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Angesichts der demografischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen und den internationalen Verwerfungen kann Europa in Zukunft nur mitgestalten, wenn es stärker als politische Einheit auftritt.
Staatsschuldenkrise – Solidarische Hilfen
Der Euro macht 25 Prozent an den internationalen Devisenreserven aus und ist die zweitwichtigste Weltreservewährung. Mit einer stabilen Gemeinschaftswährung haben die europäischen Wirtschaftsinteressen gegenüber den USA und aufstrebenden Staaten wie Brasilien, Russland, Indien und China mehr Gewicht. Seit 2010 stand in Europa vor allem die Bewältigung von Staatsschuldenkrisen mehrerer Mitgliedstaaten im Mittelpunkt.
Um diese Krise zu bewältigen wurden die Konstruktionsfehler der Fiskalunion angegangen. Mit strengeren Maßnahmen des Stabilitäts- und Fiskalpaktes wurden die Folgen verfehlter Wirtschaftspolitik und unzureichender Finanzmarktaufsicht begrenzt. So haben sich zum Beispiel 25 EU-Mitgliedstaaten zum Fiskalpakt und zur nationalen Schuldenbremse verpflichtet. Und der europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) hat sich als anerkanntes und handlungsfähiges Instrument für Euro- Staaten, die in Finanzkrisen geraten, bewiesen. Neben aufgelegten Rettungspaketen und den damit verbundenen Reformauflagen erhielten gebeutelte Krisenstaaten die Chance, ihre verschuldeten Staatshaushalte zu sanieren. Es gibt solidarische Hilfen zur Selbsthilfe. Die Bedingung: Reformen. Das war, ist und bleibt das oberste Gebot.
Bislang war der Weg erfolgreich: Alle Euro-Staaten, die Finanzhilfen bekommen haben, stehen wieder deutlich besser da: Irland, Spanien und Portugal. Sie können wieder eigenständig Kredite am Kapitalmarkt aufnehmen.
Insgesamt haben alle Euro-Staaten, bis auf Griechenland, die Zeit seit 2010 genutzt, um sich wettbewerbsfähiger aufzustellen. Die Eurozone insgesamt wurde dadurch stabiler.
Einlagensicherung und Finanztransaktionssteuer – Grenzen der Einigkeit
Soweit so gut, darin bestand Einigkeit: Die Stabilität der Eurozone nicht zu gefährden. Wie man allerdings die nicht mehr zu beziffernden Belastungen für den Steuerzahler in Folge der Finanzkrise reduzieren kann, da gehen die Meinungen weit auseinander. Zum Beispiel hinsichtlich der Vergemeinschaftung von Einlagensicherungen oder der Einführung einer Finanztransaktionssteuer.
Die Finanzkrise hat gezeigt, dass die nationalen Systeme mancher Mitgliedstaaten unterfinanziert sind. In Deutschland verfügen sowohl die Privatbanken als auch die öffentlich-rechtlichen und genossenschaftlichen Banken über ein funktionierendes Einlagensicherungssystem. Das hat sich in der Krise bewährt und darf durch europäische Vorgaben nicht geschwächt werden. Um Verursacher der Krisen an den Kosten zu beteiligen, steht außerdem die Einführung einer Finanztransaktionssteuer zur Diskussion. Gegenwärtig unterstützen 11 EU-Mitgliedstaaten den Vorschlag der EU-Kommission. Mehrere Mitgliedstaaten haben ihre Bedenken und Ausnahmeregelungen geäußert, sodass eine politische Einigung über die Grundstruktur noch im vollen Gange ist. Das ist eine weitere Auseinandersetzung, mit der die Europäische Union das Vertrauen der Märkte und ihren Wert aufs Spiel setzt.
Flüchtlingsstrom – Solidarität als Auslaufmodell
Die Grenzen der Solidarität zeigen sich ganz deutlich im Umgang mit Flüchtlingen. Erst erreichten uns Bilder und Berichte über die Ankunft von Flüchtlingen in Lampedusa, dann über katastrophale Schiffsunglücke und auch über die menschenunwürdigen Zustände in den Aufnahmelagern in Italien und Griechenland. Die internationale Staatengemeinschaft hat durch das vorläufige Auslaufen der finanziellen Hilfen für das Welternährungsprogramm zur Verschärfung der Krise beigetragen. Außerdem haben wir die Mitgliedstaaten der EU-Außengrenzen mit der Bewältigung des Zustroms und dem Grenzschutz zu lange allein gelassen.
Erst als die Situation kurz vorm Kippen war, der Flüchtlingsstrom weiter westwärts drängte und Deutschland durch die Öffnung der Grenzen die Situation vor Ort entschärfte, war es auf EU-Ebene möglich, sich auf Maßnahmen für die europaweite Verteilung von Flüchtlingen festzulegen. Erste Kontingente wurden beschlossen, sind aber noch nicht umgesetzt. Auch eine Festlegung von sicheren Herkunftssaaten war vorher nicht möglich.
Die Bewältigung dieser Krise ist aber ebenso wenig eine nationale Aufgabe, wie der Grenzschutz. Hier muss ein Umdenken einsetzen. Die Doktrin der völligen Offenheit der Außengrenzen wird jetzt zu Recht in Frage gestellt. Diese aber vollkommen zu revidieren, wie auch eine Abschottung als Lösung zu proklamieren, halte ich für falsch. Die EU braucht eine pragmatische Lösung. Es muss ein Mittelweg gefunden werden: Die Zuwanderung muss gesteuert werden. Die Einrichtung sogenannter Hotspots an den EU-Außengrenzen ist ein erstes Ziel. Für ein funktionierendes Europa sind sichere Außengrenzen unabdingbar. Wenn das nicht durchgesetzt wird, dürfen nationale Grenzsicherungen nicht ausgeschlossen werden.
Die in der Vergangenheit getroffenen verfrühten EU-Erweiterungsbeschlüsse haben einer Spaltung des reichen Nordens und des armen Südens Vorschub geleistet. Insgesamt wird dadurch der notwendige Reformbedarf deutlich sichtbar. Deshalb ist eine Annäherung der Mitgliedstaaten und eine politische Einigung dringend erforderlich.
Europa steht vor einer historischen Bewährungsprobe. Wir haben zurzeit tief sitzende grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, die besorgniserregend sind. Es fehlt an Europa – es fehlt an Union. Diese Grundsatzdiskussion müssen wir mit Leidenschaft, Herz und Verstand führen, damit wir auch morgen sagen können: Deutschland ist unsere Heimat – Europa unsere Zukunft.
von Franz-Josef Holzenkamp (MdB)

IGU e. V.