3/2011 Deutschland schrumpft – Herausforderungen des demografischen Wandels

Der Begriff „demografischer Wandel“ ist in aller Munde: Sinkende Geburtenraten, in Rente gehende Babyboomer, sinkende Schüler- und Absolventenzahlen und darüber hinaus steigt die Zahl der Auswanderer im Vergleich zu Zuwanderern. Die positive konjunkturelle Entwicklung spült zwar gegenwärtig hohe Mehreinnahmen in die Kassen der Sozialversicherungen, aber immer mehr freie Stellen, die aufgrund mangelnder Fachkräfte nicht besetzt werden können, gefährden mittelfristig die Grundpfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft.

Demografischer Wandel – Belastungsprobe für den Sozialstaat

 Durch niedrige Geburtenraten und die steigende Lebenserwartung geraten die umlagefinanzierten Sicherungssysteme immer näher an den Rand der Belastbarkeit. Bis zum Jahr 2060 wird mit einem Bevölkerungsrückgang von 20 Prozent gerechnet. Das heißt: Deutschland schrumpft von 82 auf 65 Millionen Einwohner. Der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung wird sich um mehr als 35 Prozent reduzieren. Folglich werden die Beitragseinnahmen der sozialen Sicherungssysteme sinken.

Im Gegensatz dazu steigen die Ausgaben der Sicherungssysteme aber kontinuierlich: Durch die hohe Lebenserwartung steigt die durchschnittliche Bezugsdauer der Renten. Durch den medizinisch-technischen Fortschritt steigen die Ausgaben der Gesundheitsversorgung. Die Verschiebung des Altersaufbaus der Bevölkerung lässt zudem die Pflegeausgaben steigen.

Um die Rentenkassen zu stabilisieren, wird ab Januar 2012 das Renteneintrittsalter stufenweise von 65 auf 67 Jahre angehoben. Gegenwärtig sind die Deutschen im Schnitt 63,5 Jahre alt, wenn sie sich aus dem Arbeitsleben zurückziehen. In den 50er Jahren kamen auf einen Rentner acht Beschäftigte. 2005 finanzierten noch 3,2 Beschäftigte einen Rentner mit ihren Beiträgen. Dieses Verhältnis würde 2030 umkippen: Auf zwei Beschäftigte käme dann ein Rentner. Die Rente mit 67 federt diesen Trend ab.

Am 1. Januar 2011 trat das Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FinG) in Kraft.

Damit trägt der Gesetzgeber Sorge für ein stabiles und nachhaltiges Gesundheitssystem, das auch künftigen Generationen eine verlässliche Absicherung bei Krankheit auf hohem Niveau garantiert. Durch das Umsteuern hin zu einkommensunabhängigen Zusatzbeiträgen mit einem Sozialausgleich, der über Steuermittel finanziert wird, wird das System dauerhaft auf ein solides Fundament gestellt. Bisher bedeuteten steigende Krankenkassenbeiträge auch immer steigende Arbeitskosten, die dann Arbeitsplätze gefährdeten. Außerdem führten konjunkturelle Schwankungen wie in der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise zu großen Einnahmeverlusten.

Der derzeitige Finanzierungsmechanismus der Pflegeversicherung würde den Menschen auf Dauer kontinuierlich steigende Beitragssätze abverlangen. Aufgrund der konjunkturellen Erholung hat die Pflegeversicherung Rücklagen bilden können und damit kann das gegenwärtige Beitragsniveau voraussichtlich bis 2015 stabil bleiben. Aber bis zu diesem Zeitpunkt muss eine Finanzierungsreform umgesetzt worden sein. Gegenwärtig wird die Pflegeversicherungsreform intensiv diskutiert. Eine ergänzende Teilkapitaldeckung, verpflichtend und generationengerecht, wäre zum Beispiel ein Lösungsvorschlag zur Sicherung der Versorgung. Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Anstiegs von 2,4 auf 3,5 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2030 besteht dringender Handlungsbedarf. In den nächsten Wochen wird Gesundheitsminister Daniel Bahr konkrete Vorschläge für eine Pflegereform vorstellen.

Fachkräftemangel – Belastungsprobe für den Wirtschaftsstandort Deutschland

Der demografische Wandel verändert unsere Gesellschaft und führt bereits heute in bestimmten Arbeitsmarktbereichen zu einem Mangel an qualifizierten Fachkräften. Das betrifft die Medizin- und Erziehungsberufe, Pflegeberufe und die sogenannten MINT-Berufe, die die Fachgebiete Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik abdecken. Gegenwärtig beläuft sich die  Fachkräftelücke im Pflegebereich auf etwa 20.000 und in den MINT-Berufen auf etwa 60.000. Bereits im nächsten Jahr wird sich die Fachkräftelücke auf 2,3 Millionen belaufen. Bis zum Jahr 2030 soll sie auf bis zu 5,2 Millionen steigen. Diese demografische Lücke kostet, nach Berechnungen des Wirtschaftsministeriums, jetzt schon jedes Jahr rund 20 Milliarden Euro.

Die große Herausforderung der Politik besteht darin, die Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass bereits vorhandenes Fachkräftepersonal im Inland aktiviert und genutzt werden kann. Das bedeutet, dass die arbeitsmarktpolitischen Instrumente gezielt auf ältere Arbeitnehmer, Frauen und junge Arbeitslose ausgerichtet werden müssen.
Mit dem am 29. Juni 2011 vorgestellten Kabinettsentwurf zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt soll die Effizienz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zielgerecht gestärkt werden, um mehr Menschen erfolgreich in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Durch systematisches Ausschöpfen des vorhandenen Fachkräftepotenzials können die Unternehmen  einen Großteil der Lücke (Prognose 2025: 5,2 Millionen), etwa 3,2 Millionen Stellen, allein durch ältere und weibliche Arbeitnehmer besetzen. Der Kabinettsentwurf wird im Herbst diesen Jahres im Deutschen Bundestag beraten werden.
Für Jugendliche mit Startschwierigkeiten läuft bereits seit 2009 eine Qualifizierungsoffensive, die die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss und Auszubildende ohne Berufsabschluss reduzieren soll. Es kann nicht sein, dass jedes Jahr etwa 64.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen und etwa 70.000 Auszubildende ihre Lehre abbrechen. Schon eine Halbierung dieser Zahlen brächte erhebliche Fachkräfte, die unsere Wirtschaft so dringend benötigt. Mit Investitionen von insgesamt 12 Milliarden Euro bis 2013 soll genau das erreicht werden.

Der Anteil von Arbeitslosen mit Migrationshintergrund ist mit 18 Prozent sehr hoch und muss angegangen werden. Zum einen müssen Bildungs- und Sprachlücken durch Qualifizierungs- und  Weiterbildungsmaßnahmen geschlossen werden, auf der anderen Seite müssen im Ausland erworbene berufliche Qualifikationen und Abschlüsse anerkannt werden. Denn viele Deutsche und nach Deutschland Zugewanderte haben in anderen Ländern gute Abschlüsse erworben, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt dringend gebraucht werden. Sie können diese Qualifikationen hier aber oft nicht optimal nutzen, da die Anerkennung bislang unzureichend und wenig einheitlich ist. Die Zahlen werden auf etwas 300.000 geschätzt. Und durch gezielte Zuwanderung könnten im besten Fall weitere 800.000 Stellen besetzt werden.

Auch hier hat der Gesetzgeber bereits etwas auf den Weg gebracht: Das Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen wurde im Deutschen Bundestag bereits am 1. Juli 2011 in erster Lesung beraten und zur weiteren Beratung an die zuständigen Ausschüsse übermittelt.

Franz-Josef Holzenkamp
(MdB)

IGU e. V.