3/2021 Vorstellung und Erfahrung – Ein IGU-Sommerinterview: Im Gespräch mit Rita Gehling

IGU: Hallo Rita – herzlich willkommen zum Sommerinterview! Wir beide kennen uns bereits seit über 20 Jahren. Als Freunde beziehungsweise Nachbarn konnten wir uns ab dem letzten Frühjahr lange Zeit nur mit dem gebotenen Abstand zuwinken. Daher freue ich mich sehr, dass wir uns nach anderthalb Jahren Pandemiegeschehen heute so entspannt treffen können.

Rita Gehling: Ja, das waren wirklich sehr ungewöhnliche Zeiten.

IGU: Auf welche Vorstellungen und Erfahrungen können wir denn heute mit Blick auf den Beginn der Pandemie zurückschauen?

Rita Gehling: Es gab einfach gar keine Vorstellung von den Auswirkungen einer Pandemie. Unser Umgang mit der Situation war davon abhängig, was wir wahrnehmen, wie wir diese Wahrnehmung bewerten, welche Gefühle damit verbunden sind und zu welcher Absicht und zu welchem Verhalten dies führt.

Da unsere Wahrnehmung selektiv ist (worauf achten wir …) gibt es nur subjektive Bewertungen und Gefühle. Unser Gehirn versucht, die Wahrnehmungen mit gemachten Erfahrungen zu verbinden. Auch wenn es keine konkrete Erfahrung mit dem Pandemiegeschehen gab, haben wir doch versucht, es mit irgendwelchen gemachten Erfahrungen, die mit unsicheren Situationen zu tun haben, zu verknüpfen. Die Bandbreite reicht von Panik bis Abwehr und Verleugnung. Auch Verschwörungstheorien haben in solcher Zeit Hochkonjunktur: von der Dystopie – die Welt wird bald von einer schwarzen Macht kontrolliert – bis zur Utopie – die Welt wird durch die Pandemie „besser“.

Interessant finde ich, dass am häufigsten bei Interviews querbeet zu hören war: „Wir wünschen uns die Normalität zurück“, das heißt: das, was wir kennen, womit wir Erfahrungen haben und womit wir umgehen können.

IGU: Wie war Deine persönliche Einschätzung zu Beginn des ersten Lockdowns im letzten Frühjahr?

Rita Gehling: Meine Vorstellung war, dass das so bis Ostern geht und sich dann schon wieder mehr in Richtung Normalität entwickeln wird.

IGU: Die gemachte Erfahrung sah dann wohl anders aus …

Rita Gehling: Allerdings! Es zeigte sich ja, dass es auch Ende
April noch nicht besser wurde. Bei mir wurden viele meiner Seminare und Coachings immer wieder verschoben. Zunächst war meine und die Vorstellung meiner Auftraggeber:innen, im Herbst wird es entspannter, im Frühjahr ist es spätestens vorbei, im Juni kann sich keiner mehr an Corona erinnern. Diese Erfahrung hat jetzt dazu geführt, dass ich keine konkrete Vorstellung davon habe, wie es in den nächsten Monaten weitergeht. Meine innere Haltung ist diesbezüglich etwas gelassener geworden, auch aufgrund meiner neuen digitalen Möglichkeiten und Kompetenzen.

Aber generell habe ich sowohl bei mir als auch bei vielen anderen erlebt, dass die Ungewissheit, nicht zu wissen, „wann das alles ein Ende“ hat, eine ungesunde Dauerstress-Situation ausgelöst hat. Wir können in der Regel besser mit belastenden Situationen umgehen, wenn wir wissen, wann es zu Ende ist.

IGU: Dann sind unsere Voraussetzungen jetzt andere – Erfahrungen durften wir alle reichlich machen, oder? Welche Erfahrungen hast Du beobachten können?

Rita Gehling: Ja, neben der Erfahrung, dass die digitale Welt ein Weiterarbeiten „ohne Kontakt“ ermöglicht hat, was in vielen Unternehmen superschnell umgesetzt wurde – im Gegensatz zu den Schulen … –, gibt es aber auch die Erfahrung, dass Zoom und Co. den direkten menschlichen Kontakt nicht ersetzen. In meinen ersten Seminaren und Workshops in Präsenzform hörte ich durchweg: „Endlich wieder eine Veranstaltung in Präsenz!“

IGU: Die Pandemie ist ja – auch wenn wir es herbeisehnen – noch nicht vorbei. Welche Lehren können wir dennoch bereits heute aus dem Geschehenen ziehen?

Rita Gehling: Es zeigt sich, dass die große Komplexität eine Berechnung von Wahrscheinlichkeiten erforderlich machte, ein Aspekt des systemischen Denkens. Die Stochastik tritt an die Stelle von festen Erfahrungswerten. Und damit verbunden Offenheit für neue Situationen und ein flexibler Umgang damit. Wobei es immer auch ein Gegengewicht zur Flexibilität geben muss. Etwas, was uns Sicherheit und Verlässlichkeit geben kann.

IGU: Wie sieht es denn bei so viel Veränderung mit unseren Gewohnheiten aus? An die reduzierten persönlichen Kontakte habe ich mich bis heute nicht wirklich gewöhnen wollen.

Rita Gehling: Wir konnten uns alter Gewohnheiten manchmal überhaupt erst einmal bewusst werden, uns davon lösen – und neue entwickeln. Das Spazierengehen als Alternative zum Biergarten werden sicherlich einige als neue Erweiterung sehen.

IGU: Welche Vorstellung einer möglichen künftigen Entwicklung hast Du aus heutiger Sicht?

Rita Gehling: Eine spannende Frage. Ein Synonym für den Begriff der Vorstellung ist ja die Erwartung. Das bedeutet also, sich zu fragen: „Worauf warte ich?“

Ich denke, wir tun gut daran, immer wieder neu hinzuschauen, zu wissen, dass unsere Wahrnehmung selektiv ist, Dinge aus mehreren Perspektiven zu sehen. Dadurch vielleicht Dinge anders zu bewerten und manchmal Abschied zu nehmen von zu festen Erwartungen, die dazu führen können, dass ich warte und warte und warte …

IGU: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Zur Person: Rita Gehling [Dipl- Sozialpädagogin, Supervisorin/Coach DGSv, Integrative Psychotherapie (FPI/DGT/HP)] arbeitet seit 1993 selbständig als Supervisorin/Coach, seit 2000 in eigener Praxis. Ihre Schwerpunkte: Persönlichkeitsentwicklung, Führungskräfte- und Teamentwicklung, Rhetorik und Kommunikation, Konfliktmanagement, Resilienzstärkung, Team- und Einzelsupervision/Coaching.

www.ritagehling.de

■ Karsten van Husen

IGU e. V.