1/2021 Wie wiegt man Schaden in Geld auf?

Wie viel ist ein Finger wert, ein Bein, ein Leben? Derlei Verluste lassen sich nicht in Geld aufwiegen. Anders als über finanzielle Mittel kann ein Ausgleich jedoch nicht gelingen.
Deswegen wird in Deutschland regelmäßig Schmerzensgeld gezahlt – nach Unfällen, ärztlichen Behandlungsfehlern und Körperverletzungen, aber auch in Folge von Beleidigungen und verleumderischer Berichterstattung. Einer Querschnittslähmung, einer Amputation oder einer Depression ein Preisschild anzuhaften, gestaltet sich allerdings äußerst schwierig.
Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion
In Deutschland wird versucht, objektiven Kriterien den Vorrang bei der Festsetzung der Schmerzensgeldsumme zu geben. Im Sinne einer Ausgleichsfunktion soll das Schmerzensgeld die Kosten für Behandlung und Pflege decken. Seine Höhe ist dabei abhängig von der Art der Verletzung, dem Umfang sowie der Intensität und Dauer der Schmerzeinwirkung. Zu berücksichtigen sind aber auch Faktoren wie eine Arbeitsunfähigkeit, die Dauer einer stationären und/oder ambulanten Behandlung, die voraussichtliche Leidenszeit und Langzeitfolgen.
Andererseits erfüllt das Schmerzensgeld auch eine Genugtuungsfunktion, da das Opfer Unrecht an der eigenen körperlichen und seelischen Unversehrtheit erfahren hat. Hier spielen beispielsweise das Ausmaß des Verschuldens, die Vermögensverhältnisse des Geschädigten und des Schädigers sowie Aspekte wie eine Regulierungsverzögerung bei der Schadenabwicklung eine Rolle.
Keine verbindliche Schmerzensgeldtabelle
Laut Gesetz hat Schmerzensgeld also eine Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion und stellt eine „billige Entschädigung“ dar. Der Begriff „billig“ steht dabei nicht für besonders günstig – gemeint ist vielmehr, dass die Entschädigung dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden entspricht. Das leistet sie, indem sie die individuellen Umstände berücksichtigt. Um dennoch eine gewisse Vergleichbarkeit gewährleisten zu können, ist es möglich, bei der Bemessung des Schmerzensgelds Entscheidungen zu anderen, ähnlich gearteten Fällen heranzuziehen.
Zu diesem Zweck haben verschiedene Anbieter und Institutionen – etwa der ADAC, der Verlag C.H.BECK, das OLG Celle und das Deutsche Anwaltsregister – Schmerzensgeldtabellen entwickelt, bei denen es sich im Grunde jeweilig um eine Sammlung verschiedener Gerichtsurteile zu Schmerzensgeldstreitigkeiten handelt. Es gibt also nicht die eine verbindliche Schmerzensgeldtabelle, wie viele meinen. Die verschiedenen Tabellen enthalten aber weitgehend dieselben
veröffentlichten Gerichtsurteile. Letztlich entlasten sie die Gerichte, indem sie eine Orientierungshilfe bieten. Trotzdem müssen die Gerichte die Höhe des Schmerzensgeldes in jedem einzelnen Fall individuell bestimmen.
Exkurs:
Schadensersatz/Schmerzensgeld in den USA
Aus den USA werden immer wieder Urteile bekannt, in denen Unsummen an Schmerzensgeld fließen. Das ist auf eine besondere Schadensersatzart, den Strafschadensersatz, zurückzuführen: Diesen sogenannten punitive damage oder exemplary damage kennt man im anglo-amerikanischen, nicht aber im deutschen Recht. Zweck ist, den Beklagten für rechtswidriges Verhalten zu bestrafen und ihn und andere davon abzuhalten, es zu wiederholen. Daher wird der Strafschadensersatz auch nur bei vorsätzlichem oder außergewöhnlich grob schuldhaftem Verhalten zuerkannt, nicht dagegen bei bloßer Fahrlässigkeit.
Der bekannteste Fall hierzulande ist wahrscheinlich der Fall „Liebeck vs. McDonald’s“, bei dem eine Kundin von McDonald’  2,7 Mio. Dollar Strafschadensersatz zugesprochen bekam, nachdem sie sich mit einem McDonald’s-Kaffee verbrüht hatte. Dieser Prozess wurde in der Öffentlichkeit aber sehr stark verkürzt und etwa in Deutschland durch die Presse teils so fehlerhaft dargestellt, dass der Eindruck von gieriger Geldschneiderei sowie lächerlicher Unverhältnismäßigkeit der Rechtsprechung in den USA entstand. Unerwähnt blieb zum Beispiel häufig, dass sich das Opfer nicht unerhebliche Verbrühungen dritten Grades zugezogen hatte und acht Tage im Krankenhaus verbrachte, wo eine Hauttransplantation durchgeführt wurde. McDonald’s verkaufte damals den Kaffee mit einer Temperatur von 85° C erheblich heißer als andere Fast-Food Ketten, so dass es im Laufe der vorangegangenen Jahre zu über 700 Fällen in diesem Zusammenhang gekommen war. Gleichwohl hatte das Unternehmen nicht die Absicht erkennen lassen, die Temperatur des Kaffees zu senken. Bei der Summe von 2,7 Mio. Dollar handelte es sich übrigens um den damaligen Zweitagesgewinn des Unternehmens. In zweiter Instanz wurde der Strafschadensersatz dann auf 480.000 Dollar reduziert. Danach einigten sich die Parteien auf einen Vergleich, über dessen Höhe nichts bekannt ist. Zu berücksichtigen gilt es im Übrigen, dass in den USA insbesondere bei Prozessen durch mehrere Instanzen horrende Verfahrenskosten anfallen, die der Sieger selbst tragen muss. Eine Kostenerstattung durch den Verlierer – wie bei uns in Deutschland vorgesehen – gibt es nicht. Und: Die Anwaltshonorare werden nicht nach Streitwert, sondern nach Zeitaufwand abgerechnet und sind damit um einiges höher. Dadurch reduziert sich der tatsächlich erzielte Schadensersatz oft dramatisch. In Deutschland würde das Schmerzensgeld in einem solchen Fall etwa bei 5.000 bis 20.000 Euro liegen – abhängig von weiteren Umständen, wie etwa Vernarbungen oder Folgeschäden.
Beispiele für Schmerzensgeldurteile
Gehirn (Geistige und körperliche Behinderung – 100 % – eines Neugeborenen nach zu spät eingeleiteter Geburt, OLG Frankfurt 2014) 700.000 €

Finger (Verlust des oberen Gliedes des linken Mittelfingers, LG Paderborn 2009) 6.000 €
Beinamputation (beider Unterschenkel bei 5-Jährigem nach Krankenhausverschulden, OLG Oldenburg 2020) 800.000 €
Leben (Ehemann, tödlicher Sturz vom Balkon während Urlaub, OLG Köln 2006) 6.500 €
Leben (Ehefrau, Tod wegen nicht erkannter Krebserkrankung, OLG Hamm 2015) 100.000 €
Hundebiss (in rechte Hand durch Irish-Bullterrier, AG Frankfurt a. M. 2017) 2.500 €
Haft (Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 4 Monaten aufgrund falschen Gutachtens, OLG Frankfurt a. M. 2007) 150.000 €
Wiederholte Beleidigung (einer Nachbarin teilweise vor Dritten mit Begriffen wie „blöde Kuh“, „asoziales Pack“, „Hexe“, OLG Frankfurt a. M. 2009) 700 €
Querschnittslähmung (eines 12-Jährigen nach misslungener HWS-OP, LG Regensburg 2015) 400.000 €
Vergewaltigung (eines Jungen durch den Stiefvater, LG Stuttgart 2003) 50.000 €
„Kachelmann-Prozess“ (zahlreiche schwerwiegende Persönlichkeitsverletzungen durch mehrfache Berichterstattung des Springer Verlages über angebliche Vergewaltigung) 395.000 € (rechtskräftiges Berufungsurteil aus 2016, erstinstanzliches Urteil hatte noch auf 635.000 € gelautet)
HINWEIS
Ein teures Vergnügen:
Schmerzensgeldprozesse gestalten sich auch in Deutschland sehr kostenintensiv, da die Gerichte zumeist teure Sachverständigengutachten einholen. Darüber hinaus sind die Rechtsanwalts- und Gerichtskosten Anfang 2021 noch einmal erheblich gestiegen. Gut beraten ist, wer dafür eine Rechtsschutzversicherung
■ Anne Hilchenbach

IGU e. V.