1/2015 Zuwanderung – das Allheilmittel gegen den Fachkräftemangel?

Der Großteil der Babyboomer-Generation der 1950er und 1960er Jahre geht bald in Rente. Jeder dritte Arbeitnehmer, der bereits jetzt in einem sogenannten Engpassberuf tätig ist, muss in den kommenden 15 Jahren ersetzt werden. Das sind zwei Millionen Arbeitsplätze. Gegenwärtig ist eine Diskussion über die Frage nach einem Einwanderungsgesetz entbrannt. Ist das die Lösung? Eine Steuerung der Zuwanderung nach Bedarf?

Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat berechnet, dass derzeit 6,7 Millionen Beschäftigte von 23,9 Millionen Fachkräften in Engpassberufen arbeiten. Rein rechnerisch reicht die Zahl der Arbeitslosen nicht aus, um alle offenen Stellen zu besetzen. Das betrifft ganz konkret 139 Berufe. Sehr angespannt ist die Situation in der Gesundheits- und Krankenpflege: Rund 30 Prozent, 175.000 der Beschäftigten, sind 50 Jahre oder älter. Der steigende Bedarf aufgrund der Zunahme des Alters in der Bevölkerung ist allerdings noch nicht berücksichtigt.

Erschwerend für die Besetzung von Arbeitsplätzen in naher Zukunft kommt hinzu, dass uns aufgrund des zunehmenden Alters und der niedrigen Geburtenrate immer weniger Arbeitnehmer im Erwerbsalter zur Verfügung stehen. Nach Abschluss des Mikrozensus 2011 musste die Bevölkerungszahl um 1,5 Millionen auf 80,3 Millionen Einwohner korrigiert werden. Die Statistiker prognostizieren bis 2060 einen Bevölkerungsrückgang auf ca. 70 Millionen Menschen.

Um unseren Wohlstand und die Funktionstüchtigkeit unseres Sozialstaats zukunftsfest zu machen, wird die wachsende Fachkräftelücke neben der Anpassung der sozialen Sicherungssysteme eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre sein. Denn jedes Jahr kommen zwar über eine Million Einwanderer hinzu, aber verrechnet man die Abwanderung bleiben netto lediglich 400.000 von ihnen in Deutschland. Vor diesem Hintergrund müssen wir grundsätzlich die Frage stellen, wie wir diese Aufgabe meistern wollen. Die Politik sollte sich hierbei auf drei wesentliche Bereiche konzentrieren:

1. Bestehende Potenziale heben und Arbeitnehmer unterstützen
Von Langzeitarbeitslosen, Müttern, älteren Arbeitnehmern sowie Berufsanfängern müssen die vorhandenen Potenziale genutzt werden und neben der Qualifizierung auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf konsequent weiterentwickelt werden. In den letzten Jahren hat sich hier bereits viel getan: Vom Ausbau der Kinderbetreuung, der Einführung des Elterngeldes oder des Bildungs- und Teilhabepakets sowie Initiativen zur Reduzierung der Schul- und Ausbildungsabbrecherquote, zum „Lebenslangen Lernen“ oder der „Initiative 50plus“, die gezielt die Beschäftigungschancen Älterer unterstützt. Aber auch das Gesetz für die Verbesserung der Anerkennung im Ausland erworbener Berufsausbildungsabschlüsse erleichtert vielen Arbeitnehmern den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt und trägt dazu bei, die Möglichkeiten von europäischen Hochschulabsolventen im Zuge des Bologna Prozesses zu verbessern.

2. Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten
Über 60 Prozent der gegenwärtigen Zuwanderung kommt aus EU-Mitgliedstaaten. Nach der letzten großen EUOsterweiterung 2004 erhielten zum 1. Mai 2011 acht EU-Mitgliedstaaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen) die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Seit dem 1. Januar 2014 gilt diese auch für die Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise, die für die GIPS-Staaten (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien) steigende Arbeitslosenzahlen nach sich zogen, machten sich durch einen verstärkten Zuzug von Menschen nach Deutschland bemerkbar, die bereits in anderen Ländern gelebt haben. Ihr Anteil an den Zuwanderern von 2000 bis 2007 betrug rund 20 Prozent und verdoppelte sich von 2008 bis 2013 auf etwa 40 Prozent. Aufgrund der EU-weiten Arbeitnehmerfreizügigkeit ist hier eine Steuerung der Zuwanderung über nationalstaatliche Regelungen nicht möglich.

3. Zuwanderung aus Drittstaaten
Das geltende Recht ist besser als sein Ruf: In den vergangenen Jahren wurden moderne und schlanke Regelungen eingeführt, die die Zuwanderung bedarfsgerecht steuern und international bereits von der OECD positiv zur Kenntnis genommen wurden. So gewinnt Deutschland mit der „EU Blue Card“ ein Vielfaches an Hochqualifizierten im Vergleich zu den Vorjahren. Außerdem wurde der Arbeitsmarkt für Fachkräfte in Mangelberufen weitgehend geöffnet. Bei der gegenwärtigen Diskussion über ein mögliches Einwanderungsgesetz sollte man darüber hinaus nicht außer Acht lassen, dass der Anteil der Zuwanderung aus Drittstaaten bei lediglich fünf Prozent liegt. Selbstverständlich muss Politik handeln, wenn es der Arbeitsmarkt aufgrund von wandelnden Rahmenbedingungen verlangt. Die bestehenden Regelungen müssen daher nicht nur weiterentwickelt, sondern auch besser und effektiver genutzt werden – beispielsweise über eine Herabsenkung der Gehaltsgrenzen für Hochqualifizierte mit EU Blue Card oder eine bessere Unterstützung der Arbeitsagenturen und der Wirtschaft insbesondere in den neuen Bundesländern, damit sich diese gezielter und stärker um ausländische Bewerber bemühen.

Kanada als Vorbild?
Als Vorbild für ein Einwanderungsgesetz wird immer wieder das kanadische Modell genannt, das Aufenthaltsbewerbern Punkte u.a. für Berufsqualifikation, Sprachkenntnisse und Alter zuteilt. Die Kriterien werden immer wieder angepasst. Als ideales Alter gelten 20 bis 29 Jahre. Keine Chance hat zum Beispiel jemand, der ernste finanzielle oder gesundheitliche Probleme hat. In Kanada gilt aber schon länger kein reines Punktesystem mehr. So ist ein Jobangebot vor Ort das wichtigste Kriterium. Denn niemand kann sicherstellen, dass gut qualifizierte Menschen ohne Arbeitsplatz im Einwanderungsland auch wirklich einen Job finden. Zudem besteht die Gefahr, dass Arbeitgeber versucht sein könnten, vor allem weniger oder vergleichbar qualifizierte ausländische Arbeitnehmer schlechter zu bezahlen als deutsche, wenn beispielsweise Regelungen zur gleichen Bezahlung (Equal Pay) für Zuwanderer keinen Bestand haben.

Fachkräfte werden bei uns vor allem auch im ländlichen Raum benötigt. Einwanderer zieht es aber eher in die großen Städte. Sollte man über ein reines Punktesystem die Zuwanderung steuern, könnte es auch schwieriger werden, ausländische Arbeitskräfte dorthin zu lenken, wo sie wirklich gebraucht werden.
von Franz-Josef Holzenkamp (MdB)

IGU e. V.