
Mit Verlässlichkeit und Stabilität fühlen wir uns wohl und sicher. Allerdings lassen uns neue Technologien, veränderte Lieferketten und wandelnde Kundenwünsche immer dynamischer werden. Egal, ob Startup, mittelständisches Unternehmen oder Großkonzern – das Streben nach Flexibilität verändert Arbeitsweisen. Agil zu sein bedeutet, beweglich zu bleiben, das Umfeld im Blick zu behalten und unsere noch so stabilen Vorhaben im Zweifelsfall zu ändern.
Agile Arbeitsweisen haben ihren Ursprung im „Agilen Manifest“ aus der Softwareentwicklung. Für ein fertiges Softwareprodukt bedarf es tausender Codezeilen und komplexer Verknüpfungen. Die Entwicklung kann langwierig und fehleranfällig sein. Das Manifest hilft, diesen Zustand zu verbessern. Sehr komplexe Prozesse zur Erarbeitung eines Endprodukts finden sich allerdings nicht nur in der Softwareentwicklung, sodass das Thema Agilität mittlerweile weit verbreitet ist.
Das Prinzip ist grundsätzlich ganz einfach: Statt direkt über das große Ganze nachzudenken, wird das kleinste, funktionsfähigste Teil erarbeitet, auch Inkrement genannt. Der Fokus auf dieses einzelne Teil reduziert die Komplexität und ermöglicht ein direktes Testen der Funktionalitäten. Es ist schnell erkennbar, ob das Vorhaben funktioniert. Falls notwendig, wird in der nächsten Iteration (Arbeitsschritt) verbessert, oder ganz neu gedacht.
Eine der bekanntesten agilen Methoden ist Scrum. Diese Methode stellt den iterativen (sich schrittweise der Lösung nähernden) und inkrementellen (aufeinander aufbauenden) Ansatz in den Mittelpunkt. Sie bildet mit festen Meetings, Tools und Rollen eine Struktur ab, die Transparenz über die Fortschritte ermöglicht. Eines der wichtigsten Grundsätze von Scrum ist die Selbstorganisation des Teams. Der Begriff Scrum kommt aus dem Rugby und bezeichnet das Gedränge um die Ballfreigabe. Dieses Bild ist für das agile Arbeiten in Unternehmen gut zu nutzen, denn die Spieler:innen warten nicht auf Anweisungen vom Trainer:in, sondern arbeiten eigenverantwortlich, um das gesteckte Ziel zu erreichen.
Scrum wird mittlerweile nicht nur in Unternehmen eingesetzt, sondern zum Beispiel auch in Orchestern. Musikstücke werden hierfür in Abschnitte aufgeteilt und Stück für Stück einstudiert. Dabei agieren die Musiker:innen eigenverantwortlich und Dirigent:innen handeln mehr unterstützend als leitend.
Agil zu sein, ist eine Haltung. Es gibt keine festen Regeln, welche Methodiken einzusetzen sind. Werden die Werte des „Agilen Manifests“ verfolgt und auf unterschiedliche Situationen übertragen, gewinnen wir alle ein bisschen mehr Flexibilität und am Ende auch mehr Zufriedenheit.
INFO:
Das „Agile Manifest“ (aus der Softwareentwicklung)
Das „Agile Manifest“ besagt, dass bessere Wege zur Softwareentwicklung erschlossen werden, indem Entwickler:innen es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben die Entwickler:innen folgende Werte mehr zu schätzen gelernt als andere:
▶ Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
▶ Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
▶ Zusammenarbeit mit dem Kunden:in mehr als Vertragsverhandlung
▶ Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans
Die Werte auf der rechten Seite sind wichtig, dennoch werden die Werte auf der linken Seite höher eingeschätzt. Auch wenn das „Agile Manifest“ den Fokus auf die Softwareentwicklung legt, kann es auf viele andere Prozesse übertragen werden.
Quelle: agilemanifesto.org
■ Anna Juliana Bohr
Einen Artikel für die Rubrik Mensch und Arbeit unter dem Leitthema Differenzierung zu schreiben, klingt auf den ersten Blick nicht schwer. Doch schon bei den ersten Überlegungen habe ich festgestellt, dass es nicht so einfach ist, dieses Thema zu beleuchten.
Eine Prämisse während des Schreibens: „Stelle sicher, dass du weißt, was du mit deinem Text erreichen möchtest, bevor du zu schreiben beginnst.“ Doch: Welche Facetten von Differenzierung sollten in der Rubrik „Mensch und Arbeit“ favorisiert beleuchtet werden? Die Differenzierung von Leistung? Oder lieber die von Talenten und Neigungen der Mitarbeitenden? Oder die der Arbeitsumgebung? Der Arbeitszeit? Der Generationen?
Vielleicht ist genau das der Punkt. Das Arbeitsleben und die Zusammenarbeit sind ein derart vielfältiger Bereich des Lebens, dass nahezu überall differenziert werden müsste. Dies wird zwar häufig gemacht, dennoch gibt es Bereiche, in denen Differenzierung fehlt.
Ein Denkanstoß
Auf einer Tagung vor einigen Jahren durfte ich einen eindrucksvollen Vortrag erleben. Die Vortragende war Personalchefin eines Unternehmens, welches als Start-up gestartet, enorm gewachsen und nun ein allseits bekannter Global-Player ist. Sie beschrieb, dass es immer das Bestreben war, alles für alle im Unternehmen gleich zu handhaben, damit niemand das Gefühl hatte, ungerecht behandelt zu werden. Während das Unternehmen wuchs, hat sie irgendwann festgestellt, dass genau das häufig zu einer Ungleichbehandlung führte.
Nach einigen von ihr aufgeführten Beispielen aus dem Arbeitsalltag verriet Sie uns den Satz, den sie seitdem häufiger nutzt: „Don’t believe in one size fits all!“
Was hat dieser Satz in mir hervorgerufen?
Dieser Satz kommt mir seitdem des Öfteren in den Sinn, wenn Diskussionen darüber geführt werden, dass dieses oder jenes nicht möglich oder zu tun sei, damit alle gleich behandelt werden.
Was denken Sie? Müssen Servicezeiten überall einheitlich sein, oder gibt es Bereiche, in denen es Sinn macht, diese zu differenzieren?
Müssen Kernzeiten in Unternehmen für alle gleich sein oder gibt es Möglichkeiten, für bestimmte Bereiche oder einzelne Lebenssituationen der Mitarbeitenden (z. B. Pflege Angehöriger) unterschiedliche Zeiten anzubieten?
Muss immer Konsens gefunden werden oder ist Meinungsvielfalt erlaubt und sogar erwünscht?
Müssen Anreizsysteme vereinheitlicht werden oder gibt es Menschen, denen z. B. der Dienstwagen als Statussymbol gleichgültig ist, da sie anstelle dessen andere Leistungen bevorzugen?
Muss der Arbeitsort an einen festen Ort gebunden sein oder sind Alternativen denkbar?
Gerade diese Frage ist in der heutigen Zeit eher eine rhetorische. Corona hat uns gezeigt, dass selbst in Bereichen, in denen flexible Arbeitszeitmodelle und Home Office kaum vorstellbar waren, plötzlich möglich sind.
Muss die Kostenbeteiligung Mitarbeitender bei kostenpflichtigen Angeboten immer gleich hoch sein oder könnte auch hier eine Differenzierung z. B. nach Einkommen erfolgen?
Muss die Anzahl von Urlaubstagen bei allen Mitarbeitenden übereinstimmen oder kann eine Unterscheidung z. B. nach Alter, Lebenssituation oder -planung vorgenommen werden?
Es gibt sicherlich noch andere Beispiele, bei denen darüber nachgedacht werden kann, ob eine Vereinheitlichung die gerechteste Lösung ist.
Fazit
Um auf meinen eingangs erwähnten Satz „Stelle sicher, dass du weißt, was du mit deinem Text erreichen möchtest, bevor du zu schreiben beginnst.“ zurückzukommen:
Ich freue mich, wenn mein Artikel Sie dazu animiert, von Zeit zu Zeit über diesen Satz nachzudenken: „Don’t believe in one size fits all!“
■ Silvia Wiefel
Lange spielte Lernen im Rahmen des Arbeitslebens nur eine Rolle bis zum Ende der beruflichen Ausbildung. Darüber hinausgehende Lernbedarfe konzentrierten sich auf Schulungen von Berufsverbänden oder spezialisierten Bildungsanbietern. Bei größeren Firmen ist es in der Regel Aufgabe der Personalentwicklungsabteilungen, das Lernen ihrer Belegschaft zu planen und möglichst konsequent zu steuern. Sie entwickeln entsprechende Lernangebote und tragen sie an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heran.
Das Problem ist: Dadurch, dass bei vielen im Kontext der Digitalisierung immer neue Lernbedarfe entstehen, kann dieser Ansatz mit den Veränderungen immer weniger Schritt halten. Weder kann so das Tempo der Veränderungen der
Arbeitswelt im Lernangebot widergespiegelt werden, noch erscheint es realistisch, unaufhörlich eine hohe Anzahl von Lernangeboten zu entwickeln und diese aktuell zu halten.
Die Antwort auf diese Herausforderung kann nur sein, dass die Lernenden selbst zu Gestalterinnen und Gestaltern der eigenen Weiterentwicklung werden. Egal ob Selbständige oder Mitarbeitende – Grundlage einer steten Weiterentwicklung ist
der Wille, diese Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.
Selbständiges Lernen im Alltag
Aber wie genau kann dies gestaltet werden? Lernen ist mehr als der Besuch von Seminaren, Kursen oder anderen Lernformaten. Noch viel wichtiger ist das, was wir im Alltag lernen. Weil wir circa 70 Prozent dessen, was wir wissen und können, durch die Arbeit selbst lernen, ist es zum Beispiel essenziell, dass alle Mitarbeitenden Aufgaben haben, an denen sie wachsen und sich entwickeln können.
Was brauchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Führungskräfte, um einen besseren Zugang zum kontinuierlichen Lernen im Arbeitsalltag zu erfahren? Und was hilft ihnen, um in dieses neue Bewusstsein für das Lernen hineinzufinden?
Ein Baustein dafür können Lernhacks sein. Lernhacks sind Routinen, Tools und Kniffe, die jede und jeden Einzelnen dabei unterstützen, die persönliche Weiterentwicklung selbst in die Hand zu nehmen, und die Führungskräften helfen, das Lernen ihrer Mitarbeitenden zu fördern.
Einzelne Lernhacks sind einfache, in wenigen Minuten am Tag umsetzbare Routinen. Der Lernhack „Ganz nebenbei“ zum Beispiel schlägt dem Nutzer neun ganz einfache, aber weitreichende Mini-Aufgaben vor, die sich in jedem Arbeitstag
unterbringen lassen. Sie unterstützen dabei, gerade die Chancen des unbewussten Lernens, die mit den Aufgaben und Begegnungen des Tages einhergehen, zu nutzen.

„Ein Learning zum Einstieg“ beschreibt eine simple Routine, die Führungskräfte etablieren können, um Meetings und Austauschrunden immer auch zu Lern-Events zu machen.

So lerne ich gerne
Der Lernhack „So lerne ich gerne“ ist als persönliches Steuerungsinstrument für die eigene Weiterentwicklung gedacht und funktioniert am besten als Poster im Büro: Sie können mit Hilfe von Post-its planen, was sie wie lernen möchten, wo sie aktuell stehen, und vor allem auch klären, welche Weisen zu lernen für sie am besten funktionieren. Wenn Mitarbeitende diese Fragen nicht nur für sich selbst klären, sondern ihren Lernplan auch für andere transparent machen, wächst eine
selbstverständliche Kultur des Lernens im Alltag. Führungskräfte sollten dabei als Vorbilder fungieren und voranschreiten, also ihr eigenes Lernen transparent machen, um Kolleginnen und Kollegen im Team Anregungen zu geben.

Wirklich lernen mit Videos
Wie souveräne Nutzung digitaler Lernressourcen aussehen kann, zeigt exemplarisch der Lernhack „Wirklich lernen mit Videos“: Anstatt sich von TED Talks oder YouTube-Videos nur berieseln zu lassen, sollten Ausschnitte aus Videos sinnvollerweise über eine Notiz-App gespeichert, kommentiert und aktiv bearbeitet werden. Video und Notiz können dann im Team oder im ganzen Unternehmen geteilt werden.

Pomodoro
Der Lernhack „Pomodoro“ hilft nicht nur in der Umsetzung der klassischen (und vor allem unliebsamen) Arbeitsaufgaben, sondern auch, den inneren Schweinehund beim Lernen zu überwinden. Durch die genaue Planung und Aufteilung der Lerneinheiten erfährt man einen deutlichen Effizienzgewinn.

Lernturbos
Und zu guter Letzt die „Lernturbos“: Auch selbst in die Rolle des Lehrenden für die eigenen Mitarbeiter, Kollegen oder auch die Führungskraft zu gehen, hat einen unheimlichen Lerneffekt. Durch einige Kniffe ist es leicht, vom einfachen „ich erkläre dir mal etwas“ in eine spannendere Vermittlung von Inhalten zu kommen.

■ Marcus Schrameyer
„Arbeit ist Arbeit und Schnaps ist Schnaps“. Die bekannte Redewendung hält uns dazu an, berufliches und privates nach Möglichkeit voneinander zu trennen und hat sich in der Vergangenheit im Wesentlichen bewährt. Unsere Organisationen sind darauf ausgerichtet betriebliches zu fördern und zu entwickeln und privates in einem gewissen Rahmen zwar zu tolerieren, aber im Wesentlichen doch zu unterbinden. Schließlich wird man ja „nicht für sein Privatvergnügen bezahlt“ und eine saubere Trennung hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Seit einiger Zeit diskutieren wir im Unternehmen, wo beim Thema Lernen die Grenze zwischen betrieblichen Bedarfen und privaten Wünschen verläuft. Immer häufiger gibt es Anfragen für Weiterbildungen und Seminare, die sich nicht mehr so eindeutig zuordnen lassen, weil sich ihr Nutzen sowohl betrieblich als auch nicht betrieblich gut argumentieren lässt. So wird auch im Bereich der Weiterbildung die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit immer fließender. Viele Mitarbeitende nutzen betriebliche Möglichkeiten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, auch um persönliche Interessen zu pflegen und zu entwickeln. Was auf den ersten Blick nach einem einseitigen Ausnutzen klingt, kann auf den zweiten Blick jedoch auch sehr im Sinne des Unternehmens sein, wie folgende Anekdote verdeutlicht:
Vor ziemlich genau 50 Jahren saß Dr. Spencer, ein junger Chemiker, in einem Labor in Minnesota. Er war frustriert über die Ergebnisse seiner letzten Testreihe. Denn das, was eigentlich ein neuer Superkleber werden sollte, ließ sich zwar problemlos auf verschiedene Materialien auftragen, dann aber auch wieder problemlos lösen. Ein Fehlschlag für Spencer. Einige Jahre später unterhielt er sich zufällig mit seinem Arbeitskollegen Art Fry beim Mittagessen über dessen Engagement für den Kirchenchor. Fry ärgerte sich über seine mühsam einsortierten und ständig herausfallenden Lesezeichen in den Gesangsbüchern. Und auf einmal erinnerte sich Spencer an seinen vergangenen Versuch, einen Superkleber zu entwickeln, der sich aber problemlos lösen ließ, und entwickelte zusammen mit Fry ein neues Produkt für sein Unternehmen. Dies war die Geburt des Post-its und der Beginn eines überwältigenden Unternehmenserfolgs für seinen Hersteller 3M.
Wir leben heute mehr denn je in einer Zeit, in der die neue große Idee, der entscheidende Impuls, der ein Unternehmen weiterbringt und vielleicht sogar ganze Branchen revolutioniert, aus jeder Ecke und von jedem Mitarbeitenden kommen kann. Nicht nur aus der Vorstandsetage oder einem strategischen ThinkTank, sondern vom Praktikanten oder einer Kollegin aus einem völlig anderen Bereich und oftmals völlig überraschend. Häufig entstehen solche Ideen durch Zufälle, die im Nachhinein anschauliche Entstehungslegenden abgeben, wie im Beispiel des Post-its. Für Unternehmen, die sich immer häufiger unüberschaubaren, komplexen und asymmetrischen Wettbewerbsverhältnissen ausgesetzt sehen, sind solche quer gedachten Ideen von immer entscheidenderer Bedeutung. Klassische Erfolgsgaranten wie fachliche Expertise oder große Assets rücken zugunsten von einzelnen Ideen und Kreativität in den Hintergrund. Es sind die neuen Ideen und die Menschen die diese mit Leidenschaft verfolgen, die Unternehmen voranbringen und so das Überleben der Firmen in der heutigen Zeit sichern.
Was können wir als Unternehmer tun, um diese Entwicklungen nicht nur dem Zufall zu überlassen? Damit neue Ideen entstehen können, brauchen wir Raum für interdisziplinären Austausch und vernetztes Denken. Jeder soll vom anderen möglichst viel mitbekommen, um so seinen eigenen Horizont erweitern zu können und neue Dinge zu erfahren. Jeder hat andere Interessen und Fähigkeiten und oftmals eine große Bereitschaft diese auch mit anderen zu teilen. Damit dies geschehen kann braucht es einen Ort, an dem viele verschiedene Menschen zusammenkommen, die ihr Wissen geben und auch Wissen erweitern möchten. Um derartigen Austausch zu begünstigen, müssen Unternehmen Raum schaffen. Einen Raum, in dem sich Menschen mit ihren Sichtweisen und Ideen offen begegnen können. Einen Ort, um Neues zu lernen, um Leidenschaften zu teilen und mit neuen Kolleginnen und Kollegen in den Austausch zu kommen. Um zufälligen und unvorhersehbaren Befruchtungen von Ideen und Gedanken auf die Sprünge zu helfen.
Eine Möglichkeit, so einen Raum zu schaffen, ist die Einrichtung offener Austauschrunden, z. B. durch Impulsvorträge beim gemeinsamen Mittagessen oder gleich der Einrichtung einer offenen Kollegenakademie. So können Mitarbeitende zu Themen, die sie begeistern, Vorträge oder ganze Seminare für ihre Kolleginnen und Kollegen anbieten. Zieht man bezüglich der Inhalte bewusst keine thematische Grenze zwischen betrieblichen und nicht betrieblichen Themen, entsteht ein ganzheitlicher Blick auf die Menschen im Unternehmen. Aufgrund des großen Nutzens und der Möglichkeit zur freien Gestaltung erwarten Mitarbeitende hier keineswegs, dass dies während der Arbeitszeit passieren soll. Sie sind offen und dankbar, dass im Unternehmen Strukturen und Räume zur Verfügung gestellt werden, die einen Austausch und Lernen von privaten Themen ermöglichen. Lebenslanges Lernen nicht nur in der schulischen Form, sondern als Angebot und Chance von Menschen für Menschen.
Auf diese Weise können Unternehmen doppelt profitieren, da der Nutzen für das Unternehmen deutlich über eine stärkere Vernetzung im Sinne der Innovationskraft hinausgeht. Es wird ein Menschenbild gefördert, was Mitarbeitende ganzheitlich sieht, Vielfältigkeit schätzt und jedem Mitarbeitenden die Möglichkeit gibt, seine Persönlichkeit nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln und neue Impulse und Inspirationen für sich zu bekommen. Von der Betrachtung als Mitarbeiter im Unternehmen mit vorrangig betrieblich relevanten Aspekten verändern wir uns zu einer Betrachtung als Mensch im Unternehmen mit allen dazugehörigen Bedürfnissen und Aspekten. Das macht etwas mit den Menschen und ihrer Einstellung zum Unternehmen. Den Kollegen oder die Kollegin mal in einer anderen Rolle zu sehen, andere Kollegen oder Kolleginnen überhaupt in so einem Rahmen kennenzulernen, bietet eine neue Erfahrung und neue Ansatzpunkte in jeder Hinsicht und doch ist es am Ende nicht mehr als ein Raum der Möglichkeiten, in dem persönliche Entwicklung entstehen kann. Ein Angebot zur Weiterentwicklung und vielleicht auch die Saat für die Entstehung innovativer Ideen à la Post-it.
■ Paul Grave
Wofür stehen wir eigentlich? Was macht uns aus? Fragen wie diese bilden die Grundlage einer jeden Markenbildung. Wie sich Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund dem Thema angenähert hat und inwiefern Markenführung dort als Bestandteil der Unternehmensstrategie begriffen wird, hat BVB-Geschäftsführer Carsten Cramer bei der IGU-Mitgliederversammlung in Münster erläutert.
Man eiferte dem großen Vorbild Manchester United nach: Als der BVB im Herbst 2000 auf dem Börsenparkett auflief, strotzten die Verantwortlichen vor Optimismus. Das Wagnis spülte Geld in die Kassen, die Borussia rüstete ihren Kader kräftig auf, die Meisterschaft 2001/2002 wähnte die Verantwortlichen auf dem richtigen Kurs. Doch dann blieb plötzlich der sportliche Erfolg aus. Ein wirtschaftliches Drama in diversen Akten mündete im Frühling 2005 in ein Sanierungskonzept. Mit Ach und Krach sprangen die Dortmunder der Insolvenz noch einmal gerade von der Schippe.
„Diese alten Fehler“, sagt Carsten Carmer mit Bestimmtheit, „werden wir in Zeiten des Erfolgs nicht noch einmal machen.“ Natürlich gehe es um Wachstum; darum, den Anschluss zu den Großen nicht zu verlieren. Aber nicht mehr um jeden Preis: „Wir fahren nicht im Windschatten der Bayern. Und wir fahren kein Rennen gegen andere. Wir fahren unser Rennen. Und das so schnell wie möglich.“
Das neue Selbstbewusstsein
Selbstbewusst klingt das. Und Cramer ist sich dessen bewusst. „Früher“, sagt er, „hätten wir uns ein solches Selbstbewusstsein gar nicht erlauben können. Denn wir waren uns unserer selbst gar nicht bewusst.“ Wofür steht der BVB überhaupt? Was macht den Verein aus? – Mit Fragen wie diesen hatte sich Anfang des Jahrtausends in Dortmund kaum einer auseinandergesetzt. Sie gerieten allerdings zum Rettungsanker, als der BVB wirtschaftlichen Schiffbruch erlitt und ein Neustart Not tat: „Wir mussten endlich unsere DNA herausarbeiten“, fasst Cramer die damalige Herausforderung zusammen.
Ein Rückbesinnen allein auf die Tradition des Vereins erschien den Verantwortlichen als unzureichend. Heute steht für Cramer fest: „Unsere USP, unser Alleinstellungsmerkmal, das ist die „Gelbe Wand“. Der Marketingchef zeigt eine Aufnahme aus dem Signal Iduna Park: 25.000 Fans füllen hier Spiel für Spiel die größte Stehtribüne Europas. „Was diese Anhänger auszeichnet“, sagt Cramer, „sind ihre besonderen Emotionen, ihre Leidenschaft.“
Von der „Gelben Wand“ zur „Echten Liebe“
Was bedeutet der Verein für diese seine Fans? Der BVB hat hieraus seinen Markenkern und seine Kernkompetenzen abgeleitet: „Intensität“ – Borussia Dortmund steht für ein intensives Fußballerlebnis, für maximale Emotionalität. „Echtheit“ – Ist der Verein authentisch, bringen ihm die Fans auch aufrichtige Zuneigung entgegen. „Bindungskraft“ – Der BVB bedeutet für viele seiner Anhänger Heimat und Familie. Und nicht zuletzt: „Ambition“ – Schließlich geht es hier nach wie vor um Fußball, und damit auch um sportlichen Erfolg. Auf den Punkt gebracht: „Echte Liebe“ – so der Claim, den der BVB seit nunmehr einem Jahrzehnt als sein Markenversprechen verwendet. Und um eben diese „echte Liebe“ dreht sich auch das übergeordnete Ziel, das der BVB für sich formuliert hat. Cramer wirft es auf den Bildschirm: „Wir wollen die Marke Borussia Dortmund noch wertvoller machen. Der BVB soll – auch unabhängig von sportlichen Erfolgen – dauerhaft erste Plätze in den Herzen und Köpfen einnehmen. Wir wollen so viele Menschen so intensiv und so individuell wie möglich erreichen.“
Und zwar sowohl vor Ort, als auch in der digitalen Welt, wie Cramer betont: „Wir müssen auf allen Kanälen aktiv sein – und in der digitalen Welt muss es bei uns genau so aussehen wie in der realen Welt.“ Das digitale Streben ist dabei beileibe nicht nur der Internationalisierung geschuldet: „Wir haben aktuell 55.000 Dauerkarten-Besitzer. Aber auch die werden älter …“, erklärt Cramer.
Der Fan als Markenbotschafter
„Maximale Emotion“ als Dreh- und Angelpunkt des Markenkerns – das bedeutet für den BVB nicht nur Chance, sondern auch Risiko. Andere Wirtschaftsunternehmen treibt das Customer-Relationship-Management, kurz: die Kundenpflege, um. In Dortmund hingegen redet man vom „Fan-Relation Management“: „Man muss sich mal vor Augen halten: Unsere Zielgruppe tritt gegen ein Entgelt als Markenbotschafter des BVB auf. Das gilt es nicht nur wertzuschätzen, sondern auch in der gesamten Kommunikation und im Fan Relation-Management zu berücksichtigen“, erläutert der Marketing-Chef. „Denn wen wir in dieser Körperregion berühren“, Cramer legt seine Hand auf die Brust, „den können wir auch schnell verletzen. Da ist Fingerspitzengefühl gefragt.“ Kommerzialisierung, Internationalisierung, Vertrieb, Marketing: Worte wie diese sollten eher hinter den Kulissen in den Mund genommen werden. „Die wollen die Menschen nicht hören – da gerät man ganz schnell zur persona non grata.“ Zwar sind die Liebe und die Loyalität der Fans aus Cramers Sicht „sehr werthaltig und ein riesiger Pluspunkt“. Sie fordern aber auch ihren Tribut, nämlich „eine Restriktion in der kommerziellen Tätigkeit“.
Eine unbequeme Wahrheit
Die beschriebene Gratwanderung zwischen emotionalem Anspruch und wirtschaftlichen Ambitionen ist indes nicht die einzige Herausforderung, die sich für den BVB im Zuge des Selbstfindungsprozesses herauskristallisiert hat. Denn wer sich hinterfragt, stößt mitunter auch auf unbequeme Wahrheiten: „Wir haben akzeptieren müssen, dass auch das zu Dortmund und damit zu uns gehört“, sagt Cramer mit Blick auf die rechtsgerichteten Strömungen vor Ort. Er geht mit der Problematik offen um, spricht sie in seinem Vortrag sogar mehrfach an. Ein wirtschaftlich leistungsstarker Verein müsse auch gesellschaftliche Verantwortung übernehmen – „das gehört sich“. Somit begreife es die Borussia als ihre Aufgabe, „Schattenseiten“ wir eben jene vorherrschende Naziproblematik „nicht zu ignorieren und zu kaschieren“.
Die klare Positionierung als Wegweiser
Seine Suche nach sich selbst hat der BVB inzwischen abgeschlossen. Nun gilt es aus Sicht von Carsten Cramer, „die Positionierung immer weiter zu verdichten“. Die vergangenen Jahre haben ihn gelehrt: „Man muss sich ab und an die Frage stellen: ‚Wofür stehe ich?‘ Das hilft einem, sich nicht zu verzetteln.“
Zur Person: CARSTEN CRAMER ist Geschäftsführer bei Borussia Dortmund und verantwortet dort den Bereich Vertrieb und Marketing. Geboren 1968 in Münster begann er seine berufliche Laufbahn als Geschäftsführer und Marketingleiter bei Preußen Münster, ehe er zum Sportrechtevermarkter Ufa (später Sportfive) wechselte. Als Teamleiter betreute er dort zunächst den HSV, von 2002 bis 2007 dann den BVB. Im Anschluss war Cramer für das deutschlandweite Marketing- und Vertriebsgeschäft von Sportfive (heute Lagardère Sports) zuständig, ehe er 2010 zur Borussia zurückkehrte.
■ Katharina Fiegl